HT 2021: Lokale Deutungshoheit im antiken Griechenland

HT 2021: Lokale Deutungshoheit im antiken Griechenland

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Thomas G. M. Blank, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die von Hans Beck (Münster) und Uwe Walter (Bielefeld) organisierte Sektion befasste sich mit der Frage nach Diskurslagen, die zu verschiedenen Zeiten die narrative Ausdeutung historischer Wirklichkeiten bestimmen und in der Erinnerungskultur zur Privilegierung bestimmter Erzählungen vor anderen führen. Zentraler Gegenstand war dabei das Spannungsfeld zwischen lokalen Lebenswelten in griechischen Poleis und der Vorstellung einer globalen griechischen Identität und Geschichte. Wie HANS BECK (Münster) in der Einführung erläuterte, ist der Raum des ‚Lokalen‘ in den vergangenen Jahren vermehrt in den Blick der Forschung geraten und wird heute als Diskursraum ernstgenommen, der für das kulturelle Leben in den Gesellschaften der hellenischen Poliswelt primären Charakter hatte: Wo die Frage danach, was eigentlich das den Griechen Gemeinsame sei, immer wieder als verhandelbar und fluide aufscheint, dürfte der jeweils lokale Handlungsraum das kulturelle Selbstverständnis griechischer Menschen im Alltag ganz unmittelbar und stetig geprägt haben. Gerade in ihrer Partikularität und Vielstimmigkeit erweise sich die griechische Poliswelt der klassischen Zeit als Musterfall für die Erforschung der diskursiven Spannung zwischen lokaler und globaler Welt- und Geschichtsdeutung. Dieses Spannungsfeld sollte auf den Ebenen Religion, Politik und Recht untersucht werden, wobei der im Programm vorgesehene Vortrag KAJA HARTER-UIBOPUU's (HAMBURG) zu letzterem („Die Polis passt sich an. Exklusiver Rechtsschutz und die Überwindung seiner Grenzen“) leider ausfallen musste, ein durchaus schmerzlicher Verlust angesichts der langen Debatten um die ‚Einheit des griechischen Rechts‘ 1.

Wenn die griechische Poliswelt mithin durch Vielfalt gekennzeichnet ist, auf welcher Grundlage kann oder sollte dann überhaupt ‚Griechische Geschichte‘ kohärent erzählt werden? Dieser Frage widmete UWE WALTER (Bielefeld) seinen Beitrag. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass der modernen Vorstellung einer einheitlichen, linear erzählbaren ‚Griechischen Geschichte‘ keine antike Einheitserzählung entspricht. Erst im 19. Jahrhundert sei unter den Prämissen der idealisierenden Ästhetik Winckelmanns und dem Aufkommen der Nationalgeschichte ein Interesse an der Identifizierung des ‚unverwechselbar‘ Griechischen und seiner Realisierung in der Geschichte entstanden 2. Im Unterschied etwa zur französischen Althistorie und beeinflusst durch britische Werke wie George Grotes „History of Greece“ wurde in Deutschland die kohärente Großerzählung zur bestimmenden Form des Zugriffs auf den Gegenstand. Das Interesse galt der politischen Ideenwelt vor allem Athens sowie der Polis als gesellschaftlicher Organisationsform samt ihrer äußeren Geschichte, von ihrer Formierung bis zum (vermeintlichen) Ende der freien Poliswelt 338 v. Chr. Dieser Zugriff ist, so Walter, von Vereinfachungen auf mehreren Ebenen geprägt: So basiere das Interesse der älteren Forschung an allen Epochen der Griechischen Geschichte auf einer Idealisierung der griechischen Klassik, deren Beurteilung als Vorbild auch den Blick auf die archaische Welt als Phase der Formierung sowie (seit Droysen) den Hellenismus als Phase der Universalisierung der griechischen Kultur bestimmt habe. Problematisch sei auch die geographische Eingrenzung: Allein die Räume des südlichen Balkans und Westkleinasiens konnten stets als unstrittige Bestandteile der Griechischen Geschichte gelten. Zurecht betonte Walter, dass die wesentlichen Strategien des 19. Jahrhunderts zur Begründung der Einheitserzählung heute als überholt gelten müssen. Das gilt zuvorderst für die völkisch instrumentalisierbare Vorstellung eines durch Stammeswanderungen begründeten griechischen Kerngebiets sowie für die auf antiken griechischen Feindbildern aufsetzende Idee einer in Abwehr östlicher Invasionen begründeten griechischen Freiheit. Es gilt aber auch für das noch immer verbreitete Bild der Griechen als politisch zersplitterter, dennoch einheitlicher ‚Kulturnation‘, das sich für Analogiebildungen zur politischen Gegenwart im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts anbot. Anstelle des Bildes einer ‚dichten‘ kulturellen Einheit des antiken Griechentums ist indessen längst jenes einer komplexen Ethnogenese, inhärenten Vielfalt und wandelbaren Vernetztheit der griechischen Welt getreten, die sich eher im Sinne einer thin coherence (J. Ober) denn durch das Paradigma der ‚Nation‘ als Einheit verstehen lässt. In dieser Ausdeutung jedenfalls sieht Walter weiterhin Potential für kohärente Narrativierung ‚griechischer Geschichte‘. Diese müsse sich jedoch an berechtigten Forderungen der jüngeren Forschung nach „Dezentrierung“ messen lassen, die zum einen im Sinne der Berücksichtigung lokaler Handlungsräume und Traditionen, zum anderen mit Blick auf politische Teilhabe und Identität jenseits von Eliten und Bürgerschaften erfolgen kann. Angesichts der bisweilen polemischen ‚postkolonialen‘ Kritik an den Classics3, sei jedenfalls „Totalvergessen“ auch mit Blick auf überholte Geschichtsbilder „keine Option“, da diese als erinnerungskulturelles Faktum weiterhin reale Prägekraft entwickelten.

ANGELA GANTER (Regensburg) befasste sich in ihrem Vortrag mit Deutungskämpfen um die Lokalisierung mythologischer Erzählungen. Mythologeme konnten Kultpraktiken in einem bestimmten Lokal begründen, zugleich konnten die betreffenden Orte ihre Verbindung zum Mythos aber auch im Interesse überregionaler Geltungsansprüche nutzen, da sich lokal gebundene Traditionen in die diffuse Koine einer gesamtgriechischen Mythologie einbetten ließen. Als Fallbeispiel untersuchte Ganter Erzählungen zur Geburt des Göttervaters Zeus, die in der Überlieferung gleichzeitig in Arkadien und auf Kreta lokalisiert wird. Wenn gleich mehrere Orte den Status der Geburtsstätte des Zeus beanspruchten, wie ließ sich dies mit dem ebenfalls greifbaren Anliegen der Geltung in einem gesamthellenischen Kontext vereinbaren? Ganter zeichnete die antiken und modernen Versuche nach, auf Grundlage der vor allem über Toponyme hergestellten Verbindungen zwischen Geburtsmythos und einzelnen Kultstätten dasjenige Kultlokal auszumachen, an dem die Geburtserzählung ihren eigentlichen Ursprung gehabt habe. Die schon bei Hesiod vertretene kretische Verortung des Mythos wurde häufig als die älteste angesehen, erlaubt aber keine eindeutige Identifizierung eines bestimmten Ortes, und so existierten auf der Insel beinahe folgerichtig gleich mehrere noch heute bekannte Kultplätze, an denen Riten mit Bezug zur Geburtserzählung gepflegt wurden (z.B. die Waffentänze der ‚Kureten‘), ohne dass es Quellenbelege dafür gäbe, dass irgendeiner dieser Kultplätze exklusiven Anspruch auf Anciennität erhob. Die erhaltenen Quellen für einen arkadischen Geburtsort des Zeus stammen durchweg aus jüngerer Zeit, betonen aber das Alter der zugrundeliegenden Erzählungen. Zudem finden sich in der Region frühe materielle Zeugnisse von Kultformen, die sich mit dem Geburtsmythos verbinden lassen. Ungeachtet einer schon in Münzen des 5. Jahrhunderts greifbaren Vereinheitlichung der ideellen Funktion der regionalen Zeustradition finden sich in Arkadien lokale Kulte, die sich zueinander im Hinblick auf den Geburtsmythos positionierten, indem sie etwa verschiedene Momente des Mythos mit dem jeweils eigenen Kult zu verknüpften suchten. Ganter stellte resümierend fest, dass das Anliegen, Ordnung in das Nebeneinander von Kultorten zu bringen, die sich auf dieselben oder sich überlagernde Mythologeme beriefen, ein Phänomen des Außendiskurses sei: Antike Literaten suchten (ähnlich wie lange Zeit die moderne Forschung) als Kompilatoren einer polyphonen Tradition, ein homogenes mythologisches Narrativ zu entwickeln, das die Frage nach dem wahrhaftigen Ursprungsort erst nahelegte. Die ‚epichorischen‘ Kulte selbst waren als lokale religiöse Einrichtungen auf diese Homogenität weniger angewiesen. Zwischenstaatlich freilich ließ sich die Verknüpfung lokaler Kulte mit einem literarisch homogenisierten Mythos zwar im Interesse der Positionierung gegenüber konkurrierenden Poleis verwerten. So sei die Frage nach der Lokalität von Mythen nicht unfruchtbar etwa für die Erforschung von Austauschprozessen, die zur Kohärenz der griechischen Kultur beitrugen. Falsch gestellt und nicht zu beantworten sei aber die Frage, mit welchem Ort sich eine Erzählung ursprünglich verband.

HANS BECK (Münster) nahm mit der Erinnerung an die Perserkriege einen Gegenstand in den Blick, der für den durch die ‚lokale Wende‘ veränderten Sehepunkt der jüngeren Forschung besonders instruktiv ist: So hat man sich längst von den vor allem durch das Geschichtswerk Herodots tradierten ‚panhellenischen‘ Geschichtsbildern gelöst, die geprägt von politischen Deutungskämpfen in den Jahrzehnten nach der Schlacht von Plataiai entstanden und den Perserkrieg zu einem Konflikt zweier politisch und kulturell scharf voneinander geschiedener Welten stilisierte. Beck betonte, dass schon Herodot selbst die Relevanz der lokalen Geschichtskultur auf das Tableau seiner Erzählung brachte, etwa wenn er die politische Fragmentiertheit des Griechentums betonte. Anstelle der auf die Führungsrollen Spartas und vor allem Athens zentrierten sowie die kulturelle Einheit Griechenlands betonenden Ausdeutung dieser Konstellation durch Herodot, der auf persischer Seite kämpfende Griechen als Kollaborateure und Verräter zeichnete, fragte Beck jedoch nach in der lokalen Alltagswelt erfahrbarer Geschichtskultur, die als „epichorische Geschichte“ auf lokale Publika und deren Bedürfnisse bezogen sei. Exemplarisch wurden zwei in jüngerer Zeit gefundene Grabinschriften aus Theben vorgestellt, das vom Verratsverdikt der ‚panhellenischen‘ Geschichtsdeutung besonders betroffen war: Nicht als Schmach, sondern als Aristiemerkmal der Verstorbenen erscheint in beiden Fällen die Beteiligung an solchen militärischen Niederlagen (gegen Athen 506 v. Chr. sowie evtl. im Perserkrieg), deren Bild bis heute maßgeblich von der Perspektive Herodots sowie von athenischen Denkmälern geprägt ist. So wirkungsmächtige athenozentrische Deutung thebanischer Niederlagen in erheblichen Teilen der zeitgenössischen Poliswelt des südlichen Balkans auch gewesen sein mag, und so wenig man diese auch in Theben gänzlich ignorieren konnte, so sehr liegt es doch auf der Hand, dass Narrative wie jenes vom thebanischen Verrat im Perserkrieg nicht zur Grundlage der lokalen Erinnerungskultur in Theben wurden, wo die politische Kaste immer noch große Kontinuität zur Zeit des Xerxeskrieges aufwies. Die vorgestellten Inschriften bezeugten stattdessen ein Spannungsverhältnis zwischen ‚panhellenischer‘ Geschichtsdeutung und einer vor allem nach innen gerichteten lokalen Erinnerungskultur. Dieses Spannungsverhältnis sichtbar zu machen sei ein wesentliches Verdienst der Erforschung lokaler Lebenswelten in der griechischen Welt, da gerade die Erforschung der Vielstimmigkeit des antiken Griechentums zum besseren Verständnis dessen beitrage, was man als dessen kulturelle Eigenart betrachten mag.

In der anschließenden Diskussion wies Uwe Walter auf die Herausforderung hin, die die lokalistische Perspektive für die historische Darstellung bedeutet: Wie lässt sich die Gleichzeitigkeit zahlreicher Lokaltraditionen jenseits bloßer Parataxe zugänglich narrativieren? Mögliche Antworten sahen die Beitragenden vor allem in kulturellen Effekten, die sich aus der Polyphonie des Griechentums selbst ergäben, namentlich etwa der politischen und geistigen Innovationskraft, die sich als Effekt der interpolitischen Vernetztheit und Konkurrenz plausibel machen lasse. Angesprochen wurde auch die Relevanz der regionalen Identität als ‚mittlerer Ebene‘ zwischen Polis und Hellenizität. Zum Problem des Fehlens generalisierender griechischer Geschichtsnarration betonten die Vortragenden, dass weder die Hellenika-Literatur noch die hellenistische Universalgeschichtsschreibung als solche zu verstehen sei, da erstere einen regional begrenzten Gegenstand, letztere dagegen keine exklusive Fokussierung auf griechische Geschichte aufwiesen. Schließlich wurde der Blick auf spätere Epochen ausgeweitet: Mehrere Kommentare wiesen darauf hin, dass die veränderten politischen und kulturellen Konstellationen in Hellenismus und Kaiserzeit die Relevanz der lokalen Perspektive noch deutlicher hervortreten ließen. Die Sektion konzentrierte sich jedoch verständlicherweise auf nur eine Epoche der ‚griechischen Geschichte‘. Dass die Wahl dabei auf die klassische Epoche fiel, in der sich die Erforschung lokaler Perspektiven gegen durch die Jahrhunderte dominante athenozentrische Geschichtsdeutung durchsetzen muss, war dem Rahmenthema des Historikertages sehr angemessen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Hans Beck (Münster) / Uwe Walter (Bielefeld)

Hans Beck (Münster): Einführung

Uwe Walter (Bielefeld): Gibt es überhaupt eine griechische Geschichte? Aporien und Auswege zwischen Mikroskopie und Entgrenzung

Angela Ganter (Regensburg): Auf Kreta wurde Zeus geboren – oder doch in Arkadien? Griechische Göttermythen zwischen lokaler Deutungshoheit und kultureller Kohärenz

Hans Beck (Münster): Die Deutungshoheit der Polis. Noch einmal zur Rolle Thebens im Zeitalter der Perserkriege

Anmerkungen:
1 Mit konziser Rückschau s. Gerhard Thür, Die Einheit des ‚Griechischen Rechts‘. Gedanken zum Prozessrecht in den griechischen Poleis, in: Dike 9, 2006, S. 23–62.
2 Dazu jüngst Stephan Rebenich, Die Deutschen und ihre Antike. Eine wechselvolle Beziehung. München 2021.
3 S. exemplarisch die Kritik des Althistorikers Dan-el Padilla Peralta: dazu. Rachel Poser, He Wants to Save the Classics From Whiteness. Can the Field Survive? In: The New York Times Magazine 02.02.2021 (URL: https://www.nytimes.com/2021/02/02/magazine/classics-greece-rome-whiteness.html; Aufruf am 17.11.2021). Diese Debatte ist freilich von der spezifischen Politisierung der Fachkultur in den USA geprägt, s. dazu Bloxham, John 2019. Ancient Greece and American Conservatism. Classical Influence on the Modern Right, London.


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